Es ist 1995 für Climate-Tech – es braucht Wagniskapital
Die Menschheit steht vor ihrer bisher wohl größten Herausforderung: die vollständige Dekarbonisierung aller Lebensbereiche. „Es gibt ein sich schnell schließendes Fenster der Möglichkeiten, eine lebenswerte und nachhaltige Zukunft für alle zu sichern“, heißt es im jüngsten IPCC-Bericht treffend. Dafür brauchen wir den Fahrplan zu einer Net-Zero-Economy – und die erfordert erhebliche Investitionen.
Wenn die Dekarbonisierung der Wirtschaft gelingen soll, braucht sie tiefgreifende technische Innovationen. Die Weltwirtschaft steht daher vor einer ähnlich tiefgreifenden Disruption, wie sie durch Computer und Digitalisierung in den vergangenen 50 Jahren stattgefunden hat – diesmal muss es aber noch schneller gehen.
Einiges spricht dafür, dass die einzige wirtschaftliche Kraft, die dazu imstande ist, dieselbe ist, die durch ihre risikoreichen Investitionen schon die digitale Disruption ermöglichte: Wagniskapital. Es gibt keine andere Anlageklasse, die bereit ist, Technologien vorzufinanzieren, die so risikoreich sind und dennoch das Potenzial haben, eine erneute dringend notwendige Disruption unserer Weltwirtschaft auszulösen.
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Von den etablierten Unternehmen ist dieser erforderliche radikale Wandel nicht zu erwarten, weil sie in der Regel Risiken scheuen und sich für gewöhnlich lieber auf eine kurzfristige Gewinnmaximierung konzentrieren, als ihre bestehenden Geschäftsmodelle womöglich zu kannibalisieren. Dieses Prinzip wird häufig als „Innovator’s Dilemma“ bezeichnet, ein Begriff, der von dem Harvard-Professor Clayton Christensen geprägt wurde.
Ein Blick in die Wirtschaftsgeschichte zeigt: Mutige Gründer:innen und ihre Investor:innen waren immer die Treiber:innen wirtschaftlicher Entwicklungen und Umbrüche. In den USA werden oder wurden mehr als zwei Drittel der 500 größten Unternehmen von Risikokapitalunternehmen unterstützt. Vier der zehn wertvollsten Unternehmen der Welt sind wagniskapitalfinanziert und aus der digitalen Disruption hervorgegangen.
Wagniskapitalfinanzierte Unternehmen haben eine Marktkapitalisierung von 77 Prozent in den Bereichen Software und IT-Dienstleistungen und 67 Prozent in der Elektronik- und der Computerherstellung. „Startups müssen die treibende Kraft des Wandels werden, sonst wird er nicht schnell genug vonstattengehen“, sagt auch Andreas Kuhlmann, Vorsitzender der Geschäftsführung der staatlichen Deutschen Energie-Agentur (Dena).
Unternehmen wie Tesla, Beyond Meat, 1 Komma 5° oder Sonnen haben gezeigt, dass durch die Gründung grüner Startups ganze Branchen in Richtung Nachhaltigkeit disruptiert werden können. Nicht die großen Automobilhersteller dieser Welt haben die Wende zu einem nachhaltigen Antrieb und einer Alternative zu fossilen Brennstoffen hinbekommen – der Wandel musste von außen kommen.
Wir stehen allerdings noch ganz am Anfang – vergleichbar mit dem Einfluss des Internets auf die Weltwirtschaft im Jahr 1995. Ähnlich wie die Digitalisierung ist auch die grüne Disruption ein Querschnittsthema, das alle Bereiche der Wirtschaft betrifft und grundlegend verändern wird.
Wagniskapital ist also eine zwingende Voraussetzung für die dringend notwendige ökologische Wende der Weltwirtschaft – die Branche wird allerdings nur dann investieren, wenn auch die zu erwartende Rendite stimmt. Daten der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PwC zeigen, dass Investitionen in klimafreundliche Unternehmen und Technologien schon in der Vergangenheit klare Überrenditen erzielt haben.
Demnach haben sowohl Fonds, die den ESG-Kriterien folgen, als auch Aktien von umweltfreundlichen Unternehmen und die von Unternehmen, die innerhalb einer Branche besonders klimafreundlich waren, jeweils bessere Renditen erzielt als der Markt.
Auch eine Erhebung des Finanzdienstleisters MSCI zeigt: Unternehmen mit besseren ESG-Bewertungen erzielen im Schnitt bessere Renditen. Gleichzeitig sind laut einer weiteren PwC-Studie europäische Kund:innen schon heute bereit, mehr für grünere Produkte zu bezahlen. Blackrock-Chef Larry Fink schrieb 2022, die Dekarbonisierung der Weltwirtschaft werde „die größte Investitionsmöglichkeit unserer Zeit“.
Natürlich sind auch gute ESG-Bewertungen kein Garant für Erfolg: Auch solche Unternehmen können daran scheitern, sich angesichts des Klimawandels neu zu erfinden, und an Marktkapitalisierung verlieren oder sogar pleitegehen. Das ist auch Technologieunternehmen passiert, die den Wandel des Internets nicht überlebt haben.
Aus guten Gründen: Zahlreiche globale Industriegiganten haben ehrgeizige Klimaziele in ihren Geschäftszielen verankert. Die Technologien, um diese umzusetzen, fehlen noch. Im kommenden Jahrzehnt müssen die Technologien finanziert und entwickelt werden, mit denen die globalen Industriegrößen ihre Ankündigungen zur radikalen Dekarbonisierung des eigenen Geschäfts praktisch umsetzen können.
Bloombergs auf Energiethemen spezialisierter Dienstleister Bloomberg NEF schätzt, dass derzeit nur etwa 16 Prozent des Bedarfs an Klimafinanzierung gedeckt werden. Die Klimafinanzierung muss damit bis 2030 um mindestens 590 Prozent auf 4,35 Billionen Dollar jährlich steigen, um unsere Klimaziele zu erreichen. Laut der Internationalen Energieagentur (IEA) müssen für das Ziel einer global 100 Prozent grünen Energieerzeugung bis 2050 rund die Hälfte der dazu notwendigen Technologien erst noch entwickelt werden.
Zum Glück boomen Investitionen in grüne Technologien – trotz des insgesamt seit Anfang 2022 deutlich verschlechterten Marktumfelds für Wagniskapital. Weltweit hat sich die Zahl der Technologieunternehmen, die die Klimakrise bekämpfen, von 2010 bis 2022 um mehr als 35.000 Firmen auf insgesamt 44.595 Unternehmen vervierfacht. Der Climate-Tech-Sektor verzeichnete im vergangenen Jahr ein Rekordniveau an Investitionen: Schätzungen zufolge floss 2022 mehr als ein Viertel jedes investierten Risikodollars in Climate-Tech.
In Europa zeigt sich ein ähnliches Bild: Das Krisenjahr für Wagniskapital 2022 stellte einen neuen Rekord für die Branche dar, in dem europäische und israelische Climate-Tech-Unternehmen Finanzmittel in Höhe von 16,4 Milliarden US-Dollar erhielten.
Der Druck von Politik, Gerichten und aktivistischen Investor:innen sorgt derzeit global dafür, dass die großen Tanker unserer Weltwirtschaft sich ambitionierte Klimaziele setzen. Nun kommt es darauf an, die Technologien zu finanzieren, die auch die praktische Umsetzung ermöglichen. Die grüne Revolution der Weltwirtschaft steht in den Startlöchern – und Wagniskapital wird sie finanzieren.