Die Vier-Tage-Woche muss politisch sein
Vollzeit ist in der Arbeitswelt ein Ideal, das wie ein Fetisch verehrt wird. Wer mehr als 37 Stunden in der Woche arbeitet, ist ein vollwertiges Mitglied der Arbeitsgesellschaft. Mehr als 45 Stunden in der Woche bringen den Held:innenstatus.
Diese Ansicht führt zu einem Problem: Wer weniger Stunden mit Erwerbsarbeit verbringt, wird abgewertet. Das betrifft Frauen, Eltern, Pflegende und allgemein Menschen, für die fünf Tage Arbeit von morgens bis abends schlicht nicht leistbar sind.
Sie bekommen weniger Gehalt – oft unabhängig davon, ob dies mit (verringerter) Leistung zu rechtfertigen ist oder nicht. Sie bekommen weniger Rente. Und sie arbeiten zu einem gewissen Prozentsatz gar nicht freiwillig in Teilzeit, berichtet das Statistische Bundesamt. Andere arbeiten der Statistik zufolge freiwillig in Teilzeit, geben als Grund aber Verpflichtungen in der Sorgearbeit an. Doch wer viel Sorgearbeit hat oder aus anderen Gründen eingeschränkt ist, der arbeitet natürlich gern in Teilzeit – schließlich wäre Erwerbsarbeit in Vollzeit gar nicht realistisch, sondern für viele schwer schaffbar. Das klingt ja eher nicht nach Freiwilligkeit.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat errechnet, dass die Ungleichheit bei den Erwerbseinkommen steigt. Das bedeutet: Gutverdienende verdienen mehr, Geringverdienende verdienen weniger. Im Wochenbericht schreiben die Autoren: Der „Anstieg liegt fast gar nicht [in] Stundenlöhnen [begründet], sondern vielmehr an [der] Entwicklung der Arbeitszeiten – Beschäftige mit geringen Löhnen arbeiten heute deutlich weniger als früher.“ So beziffern die Forscher die Gründe für die Ungleichheit:
- circa 15 Prozent zunehmende Ungleichheit bei Stundenlöhnen
- circa 40 Prozent zunehmende Ungleichheit bei Arbeitszeiten
- den Rest erklärt der Zusammenhang von Arbeitszeit und Stundenlohn
„Beschäftigte mit hohen Stundenlöhnen sind zunehmend auch die mit den längsten Arbeitszeiten, was die Ungleichheit der Erwerbseinkommen vergrößert“, schreiben die DIW-Forscher. Das könnten wir so interpretieren: Wer mehr Stunden arbeitet, dessen Arbeitsleistung wird höher wertgeschätzt. Und diese Wertschätzung drückt sich im Stundenlohn aus.
Eine solche Haltung ist heute nicht mehr zu rechtfertigen. Nicht nur, dass viele Jobs es gar nicht erfordern, bestimmte Zeiten zu arbeiten. In jenen, die es doch tun, ist eine höhere Arbeitszeit Studien zufolge mit geringerer Leistung verbunden – die dann aber im Schnitt höher vergütet wird. Logisch? Nein.
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Und spätestens wenn wir das Argument zücken, dass in vielen hochqualifizierten Jobs Überstunden als abgegolten gelten, müssen wir ernsthaft darüber nachdenken, in was für einer Welt wir eigentlich leben wollen.
Denn unbeschränkte Überstunden kann nicht jede:r machen. Das Arbeitsergebnis wird dadurch nicht besser, sondern schlechter. Und sobald die angestellte Person in ein Sozialgefüge eingebettet ist – Familie oder andere verrückte Dinge –, wird es eine andere Person geben, die die Arbeitskraft erst ermöglicht. In der Praxis führt das dazu, dass der Vollzeitfetisch in der Arbeitswelt Männer an Schreibtische fesselt und Frauen, egal wie qualifiziert, von der Karriereleiter drängt. Vollzeit diskriminiert, schreibt Teresa Bücker in ihrem Buch Alle_Zeit.
Geht jemand in Teilzeit, dann sprechen wir davon, dass Teilzeit „gewährt“ wurde. Der Person wurde das erlaubt. Doch in der Praxis bedeutet das viel zu oft, dass die Karriere beendet ist. Aufstieg? Selbstverwirklichung? Weiterbildung? Gestaltungsmöglichkeit? Wer nicht (immer) da ist, der verliert in vielen Teams die Stimme.
Theoretisch gibt es ein Recht auf Teilzeit – in der Praxis opfern Menschen damit aber etwas, das ihnen Freude macht: ihr Engagement im Job. Nicht, weil sie dieses Engagement nicht mehr bringen würden. Sondern weil es nicht mehr gesehen wird und schon gar nicht wertgeschätzt. Wir haben also nicht wirklich die Wahl, denn auch diesen Preis kann nicht jede:r zahlen.
In einer gerechten Gesellschaft können wir uns ganz andere Modelle vorstellen. Gehen wir von einer Vier-Tage-Woche aus oder von 32 Stunden Erwerbsarbeit – die nicht durch reduzierte Betreuungszeit bestraft werden. Das braucht einen sanften Übergang, denn so viele qualifizierte Menschen haben wir nicht. Ein Teil der fehlenden Arbeitskraft würde durch jene aufgefangenen, die gern mehr arbeiten möchten. Einen anderen Teil schaffen jene, deren Lebenssituation ein Mehr an Stunden zulässt. Sie werden die Abweichung sein, die dem System beim Übergang hilft. Wir können sie wertschätzen – statt jene abzuwerten, die ein sozial gerechteres Maß arbeiten.
Was sich wirklich ändern muss, ist unsere Einstellung zur Arbeitszeit. Fünf volle Tage als Norm zu werten, hat sich nicht bewährt. Es hat Probleme geschaffen. Es schafft eine Ungleichheit, sowohl ökonomisch als auch in der Wertschätzung der Menschen.