So gehst du konstruktiv damit um
Vier Absätze. 183 Wörter. 1.184 Zeichen. So viel schrieb mir ein Mann unter einen Linkedin-Post, um mir zu sagen, dass mein Artikel ihm ihn seine Timeline gespült wurde, obwohl er ihn nicht wollte, dass mein Artikel nur um des Postens willens entstanden sei, dass ich keine Ahnung vom Thema hätte und dieses Thema sowieso nicht relevant sei. Ich überflog den Kommentar, blockte den Nutzer und nannte es Selfcare. Gut, dass ich heute einen Artikel über Kritik schreiben muss. Hier kommt er:
Gute Arbeit lebt von den Rückmeldungen anderer. „Kannst du dir mal was anschauen?“, ist der Satz, der aus beruflichen Bekanntschaften Freundschaften wachsen lassen kann. Wer um die Perspektive anderer bittet, der wertschätzt damit ihre Expertise. Menschen fühlen sich gut, wenn sie um Feedback gebeten werden. Andere fühlen sich auch gut, wenn sie nicht gebeten werden – sie geben ihre Meinung trotzdem ab, sobald sie eine Gelegenheit sehen.
So entsteht, je nach Größenordnung, bald ein Katalog an Rückmeldungen. Diese Vielfalt kann wichtig und nützlich sein, wenn es darum geht, wirklich gute Arbeit abzuliefern. Sie kann fürchterlich nerven, wenn Feedback gemischt wird mit Meinung, Kritik aus dem Rahmen fällt und sich sogar fachliche Anmerkungen widersprechen.
Empfehlungen der Redaktion
Dies passiert nicht nur im Arbeitsprozess: Auch auf Social Media sehen wir, dass bestimmte Posts nicht nur inhaltlich kommentiert, hinterfragt und ergänzt werden, sondern (in der Regel selbst ernannte) Experten die Arbeit und die Menschen hinter ihr bewerten wollen.
In einer idealen Welt würden Menschen inhaltlich-sachlich beurteilen. Genau das ist es schließlich, was der Begriff der Kritik meint: Jemand prüft und beurteilt etwas. Ein Werk, eine Leistung, Arbeit, ein Kunstprojekt, eine Software oder Butterplätzchen. Das ist grundsätzlich neutral. Umgangssprachlich wird der Begriff der Kritik allerdings oft negativ verstanden: Kritik ist ein Angriff auf die eigene Leistung, ja, auch die wohlgemeinte, auch die sachlich-konstruktive. Es ist vollkommen in Ordnung, dass die Psyche die Kritik erst einmal als einen solchen Angriff begreift. Weiter kommt aber nur, wer nach diesem ersten Schock anfängt, mit der Kritik zu arbeiten.
Wir können die Rückmeldungen in verschiedene Kategorien einteilen. Wer das beherrscht, der kann auch mit einem größeren Schwung an Kritik gut umgehen. Die folgenden Kategorien sind Beispiele. Worum es hier geht: Wenn euch Kritik überwältigt, dann überlegt euch, welche Art von Rückmeldung im konkreten Fall relevant ist – und welche eben nicht.
Formale Fehler sind sachliche Fehler. Sie sind in der Regel relevant. An die Arbeit von Menschen, die noch am Beginn ihres Berufslebens stehen, werden oft andere formale Maßstäbe angelegt, als an die von Expertinnen und Experten. Es gilt: Wer die Regeln seiner Profession sauber beherrscht, der darf sie auch brechen. Formale Kritik kann fürchterlich nerven, aber sie ist es, die euch wirklich voranbringen kann.
Wer inhaltliche Bedenken äußert, kann schon auf halbem Weg zur Meinung sein – muss aber nicht. Inhaltlicher Widerspruch mag einer einzelnen Haltung entstammen, diese Haltung teilen aber möglicherweise so viele Menschen, dass an ihr etwas dran ist. Dies gilt es zu prüfen. Nicht jeder inhaltliche Kommentar muss angenommen werden. Er kann aber dem Troubleshooting dienen: Möglicherweise braucht das Produkt ein Feature mehr, die Argumentation noch eine weitere Schleife oder die Beschreibung der Dienstleistung zwei bis drei ergänzende Sätze. Inhaltliche Anmerkungen sind schnell abgetan – dabei sind sie immer eine Chance, das Ergebnis der Arbeit noch ein bisschen besser zu machen.
Diese ersten beiden Kategorien des Feedbacks sind es, die Freundschaften entstehen lassen können. Denn Kritik ist ein Geschenk. Sie mag wehtun, sie macht immer Arbeit, aber sie lässt Menschen wachsen. Das ist ihre einzige Funktion.
Schwieriger wird es bei anderen Formen der Kritik:
Wird die Arbeit (oder ein Teil davon) negativ bewertet, ohne dass diese Kritik nachvollziehbar begründet wird, dann ist das kein nützliches Feedback. Es ist schlicht eine Meinung. Diese Meinung kann interessant sein, wenn zu erwarten ist, dass viele Menschen sie teilen und deshalb die Arbeit als Ganzes negativ bewertet wird. Dies zu hinterfragen – und gegebenenfalls zu nutzen –, lohnt sich. Aber manchmal ist eine Meinung eben nur eine Meinung. Und dann darf sie auch mal abgetan werden.
Im direkten Gespräch sind sich gut sozialisierte Menschen in der Regel zu schade, persönlich zu werden. Aber eben auch nicht immer. Manche Menschen fühlen sich berufen, anderen zu sagen, dass sie für das, was sie gerade tun, eigentlich nicht geeignet sind. Diese Form der Kritik ist vielleicht sogar nett gemeint: „Man hätte dir das nicht auftragen sollen“, mag der Gedanke dahinter sein. Trotzdem wäre es klüger gewesen, den Mund zu halten, denn Wachstum kann auch aus wohldosierter Herausforderung entstehen – nicht aber, wenn jeder Fehler als Zeichen der Unfähigkeit interpretiert wird.
Kritik darf wehtun, sie darf aber nicht vernichten. Ihre Position als Kritiker gibt Menschen nicht das Recht, aktiv verletzend zu kritisieren. Tun werden sie es trotzdem, denn das ist die Haltung, mit der viele Menschen durchs Leben gehen: Sie sind in der Position, zu kritisieren. So nehmen sie sich selbst wahr. Soziale Medien sind für diese Menschen ein heiliger Ort: endlich kritisieren, ohne das Risiko einzugehen, dabei selbst gewogen und geprüft zu werden.
Durch das Internet haben wir die Möglichkeit, anderen Menschen in Ruhe zuzuhören, auch unseren Kritikern. Wir sind aber nicht verpflichtet, das die ganze Zeit zu tun. Oder für jeden.
Was tun wir also mit der persönlichen Kritik? Die passende Antwort lautet: „Sie sind offenbar nicht fähig, die Arbeit anderer zu kritisieren.“ Ob das nun laut ausgesprochen wird oder nicht, überlasse ich eurem Urteilsvermögen. Ich vertraue nämlich darauf, dass ihr das könnt.